Liebe Brüder und Schwestern,
es war bis hierhin eine sehr aufregende Woche. Die aktuellen Corona-Zahlen sind so hoch wie noch nie zuvor und die Wahl in den USA ist immer noch nicht entschieden. Jetzt könnte man sagen, dass es gut tut, sich ab und an mal mit "geistlichen" Themen zu beschäftigen, so wie wir es ja jetzt auch tun wollen.
Das ist natürlich richtig in gewisser Weise, aber eben auch nicht allumfassend. Das würde nämlich bedeuten, dass das geistliche Leben und das politische Leben zwei voneinander getrennte Bereiche sind. Das ist aber nicht so. Ich bin als Bürger Christ und als Christ Bürger. Immer beides zusammen und zur gleichen Zeit. Und auch wenn das Eine dem Anderen nicht unmittelbar vorgibt, was es zu sein hat, so beeinflusst es sich doch gegenseitig. Als Christ muss ich mir nämlich überlegen, wie ich mich zum Coronathema verhalten möchte und welche Positionen ich vertrete und als Christ werde ich gleichermaßen meine politische Meinung vertreten, wählen gehen und Verantwortung übernehmen. Dass es dabei nicht die christliche Position gibt, ist klar, auch wenn uns das Manche immer wieder einreden wollen. In den USA sieht man das momentan in ganz besonderer Weise. Die Unterstützer der Republikaner kommen zu ganz großem Anteil aus dem evangelikal-christlichen Milieu heißt es immer wieder. Abtreibung, gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Krankenversicherung, Steuerfragen, soziale Gerechtigkeit, Rassismus usw. sind die Fragen, um die es geht und in der das viel beschworene Milieu eine große Einigkeit zu haben scheint. Aber ist das wirklich so? Haben tiefgläubige Christen in den USA alle die gleiche Meinung in diesen Fragen? Müssen (rechtgläubige) Christen in allen diesen Fragen die gleiche Meinung vertreten. Zumindest auf den ersten Blick scheint das im Großen und Ganzen so zu sein. Doch wir sollten vorsichtig sein. Der britische Journalist und Ethiker James Mumford hat den Begriff der "Package-Deal-Ethics" geprägt (übersetzt etwa so etwas wie Paket-Ethik). Man unterstützt z.B. eine Partei in einer wichtigen Frage und deshalb unterstützt man die Partei auch in allen anderen Fragen. Oder man ist Christ und weil die Christen um einen herum alle ein bestimmtes Paket an Überzeugungen vertreten, macht man das einfach auch. So wirkt es nach außen und viele handhaben es sicherlich auch so, aber so einfach ist es nicht. Unsere Glaubensgrundlage, die Bibel, gibt auf viele moderne Fragen keine Antworten, bestenfalls Anregungen, bzw. ein Fundament von dem aus Antworten entwickelt werden können. Und so müssen wir uns alle selbst dieses Fundament aneignen und von dort aus unsere Entscheidungen treffen und unsere Meinungen entwickeln. Und auch wenn die Medienlandschaft gerne Schubladen benutzt (die Religiösen wählen so, die Gebildeten wählen so usw. - als wenn es keine gebildeten Religiösen geben würde), so sind diese v.a. im Hinblick auf den Glauben einfach nicht adäquat.
Lest noch einmal Hebräer 5,13-6,3
Wir haben am Mittwoch beim Zoom-Treffen mit einigen aus unserer Gemeinde nochmal gemeineinsam überlegt, was eigentlich der Unterschied zwischen Milch und fester Nahrung für den Gläubigen ist. Konkretisiert: Was ist Glaubensmilch? Was ist feste Glaubensnahrung? Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es viele verschiedene Dinge sein können und in manchen Dingen mussten wir auch eingestehen, dass wir es nicht so genau wissen. Aber: Gerade durch die aktuellen Themen der letzten Wochen und insbesondere der letzten Tage ist mir deutlich geworden, dass feste Glaubensnahrung auf jeden Fall auch ist, fest im Worte Gottes zu stehen und v.a. auch dieses im Hinblick auf konkrete Fragen ordentlich auslegen zu können, z.B. im Hinblick auf die politischen Debatten, sich in politischer Theologie auszukennen und damit eine Grundlage für eigene politische Positionen zu haben aber eben auch die Grenzen des Wortes Gottes im Hinblick auf eine bestimmte Frage zu erkennen. Das ist natürlich nicht einfach. Es braucht Disziplin, die Bibel immer wieder auf solche Fragestellungen hin zu lesen. Es wird Mühe kosten, Artikel und evtl. auch Bücher zu lesen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Es braucht Zeit, all das vor Gott zu bringen und sich in seinem Herzen anrühren zu lassen. Und natürlich braucht es auch eine Kultur, in der wir als Kirche bereit sind, auch solche Dinge zu diskutieren. Manchmal glaube ich, dass auch wir einen Hang dazu haben, uns hinter diesen "Package-Deal-Ethics" zu verstecken (je nach Couleur z.B. alles das gut finden, was unsere eher liberale Kirchenleitung so kommentiert oder vielleicht auch unvoreingenommen die Meinungen irgendwelcher bekannten frommen Persönlichkeiten als die eigenen annimmt). "Package-Deal-Ethics" sind für mich Glaubensmilch. Sie sind gut, weil sie am Anfang eine einfache Orientierung geben, aber dem reifen Christen werden sie nicht mehr gerecht. Wir brauchen Schwarzbrot in dieser Hinsicht.
Ich wünsche mir, dass wir uns darauf einlassen, dass wir nicht zu schnell kategorisieren und in Schubladen abschieben, uns auch nicht selbst vorschnell in Schubladen begeben, sondern bereit sind zu lernen, zu hinterfragen, zu studieren, zu beten und miteinander um das Richtige zu streiten. Das ist Anstrengend und nicht so leicht zu schlucken, aber am Ende hält es uns alle gesund.
Bleibt behütet
Euer Pfarrer Stefan Comes
P.s.: Wer noch vertiefend weiterlesen möchte und des Englischen mächtig ist, dem empfehle ich folgenden New-York-Times-Artikel: https://www.nytimes.com/2018/09/29/opinion/sunday/christians-politics-belief.html?fbclid=IwAR2jWSEO2Pk7-f0-lHDZaBbNadTQg2qBvv17345bzxj4raIY4rIwNOU23HY